Offener Brief der Mitarbeitenden im Gesundheitswesen Baden-Württemberg an Herrn Winfried Kretschmann (HTML-Version)

[Von]
Mitarbeitende der Gesundheitseinrichtungen
in Baden-Württemberg
med-versorger-bawue@mail.de

[An]
Herrn Ministerpräsident Winfried Kretschmann MdL
Staatsministerium Baden-Württemberg Richard-Wagner-Straße 15
70184 Stuttgart

Stuttgart, den 21.02.2022

Einrichtungsbezogene Impfpflicht = Rote Linie überschritten!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

ab 16. März 2022 gilt in Deutschland in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen eine Impfpflicht im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes (IfsG). § 20a des IfsG sieht vor, dass Mitarbeitende in einer Gesundheitseinrichtung bis zum Ablauf des 15. März 2022 einen Nachweis vorzulegen haben, ob sie einen aktuellen Impfschutz gegen COVID-19 haben, genesen im Sinne des RKI sind oder aus nachweislichen medizinischen Gründen nicht geimpft werden können.

Als Mitarbeitende in den regionalen Unikliniken, Kreiskrankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Sozialstationen, Einrichtungen für behinderte Menschen, Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, Arztpraxen, Zahnarztpraxen sowie Mitarbeitende der humanmedizinischen Heilberufe wie Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Hebammen etc. in Baden-Württemberg betrifft uns dieser Beschluss unmittelbar; aus diesem Grund wenden wir uns in diesem Brief an Sie.

Durch die Ökonomisierung im Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren unsere Arbeitssituation extrem verschlechtert. Hinzu kommen die Herausforderungen der Pandemie, auf die wir aufgrund dieser Tatsache personell und strukturell nicht vorbereitet waren. Die letzten zwei Jahre waren für die gesamte Gesellschaft sehr belastend, für uns im Gesundheitswesen jedoch in besonderem Ausmaß: Die Arbeit war und ist geprägt von vielen Überstunden bei Unterbezahlung und chronischem Personalmangel, einem hohen Durchlauf von Patienten und Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Schutzausrüstung. In den Hochphasen der Pandemie durften bzw. mussten sogar selbst infizierte Mitarbeiter ohne Symptome im Vollschutz weiterarbeiten.

Wir haben diese Herausforderung angenommen und dazu beigetragen, dass viele Patienten wieder gesund wurden. Das Pflegepersonal in den Kliniken hat an Corona erkrankte Menschen bis in den Tod begleitet und sterben sehen. Die tägliche Arbeit in Schutzausrüstung wurde Normalität und in vielen Bereichen des Krankenhauses ist man bis heute nicht zum Regelbetrieb zurückgekehrt.
Vor allem der anhaltende Personalmangel bringt uns als Pflegepersonal an die Grenzen unserer Belastbarkeit.

Kolleginnen und Kollegen aus den ambulanten Sektoren mussten sich den täglichen Herausforderungen einer Pandemie stellen und vielen Menschen Halt und Zuversicht geben; oft ging es nicht um die eigentliche Behandlung, sondern um die Ängste und Sorgen der Patienten, wie sie denn durch die Pandemie kommen mögen. In der Anfangszeit fehlten die nötigen Schutzausrüstungen. Dann gab es ein hohes Patientenaufkommen, weil viele Patienten aus Angst ihren Termin im Lockdown abgesagt haben. Andere Male reagierten Patienten aufgebracht und haltlos, wenn sie nicht umgehend einen Behandlungs- oder Impftermin bekommen konnten und warten mussten.

Die Mitarbeitenden in den Sozialstationen, Pflege- und Behinderteneinrichtungen mussten und müssen mit ansehen, wie Menschen durch die Corona-Maßnahmen vereinsamen und sich nie wieder davon erholen werden.

Wir gehörten zu den Ersten, die sich impfen lassen sollten. Was vielleicht gut gemeint war, löste jedoch auch viel Unmut und Skepsis aus, da wir wie kein anderer Teil der Bevölkerung täglich die Verläufe der einzelnen Patienten sehen, die aktuellsten medizinischen Fachinformationen haben und die tatsächliche Datenlagen kennen. Die Hoffnungen und Erwartungen an die Impfungen haben sich leider nicht erfüllt. So wissen wir, dass wir durch eine COVID-19-Impfung nie eine sterile Immunität erreichen werden und es auch unter Geimpften gehäuft zu Ansteckungen kommt. Auch beobachten wir schwere Verläufe von COVID-19 bei geimpften und geboosterten Patienten.
Dazu sind die Impfstoffe nur bedingt zugelassen und bergen Risiken und Nebenwirkungen, wie z. B. Myokarditis oder Perikarditis, die nun vermehrt an jungen Patienten auftreten und stationär behandelt werden müssen.

So, wie sich die Spaltung der Geimpften und Ungeimpften in unserer Gesellschaft vollzieht, so werden nun viele von uns beruflich stark ausgegrenzt. Das heißt, dass Mitarbeitende ab März zum Beispiel nicht mehr für Dienste oder Urlaubsvertretungen eingeplant werden und häufig bereits heute schon nicht mehr an Teambesprechungen teilnehmen dürfen. Mittlerweile müssen sich Kolleginnen und Kollegen zuweilen auch mit menschenverachtenden Verhaltensweisen von Vorgesetzten und anderer Kollegen auseinandersetzen, indem einem etwa eine COVID-19- Erkrankung mit schwerem Verlauf oder gar eine Zwangsimpfung gewünscht wird. In ähnlicher Weise sind auch ungeimpfte Patienten betroffen, die häufig bewusst diffamiert werden. In einem großen Uniklinikum ist es nun schon so weit, dass dem nichtimmunisierten Personal der Zutritt zur Kantine verwehrt und selbst eine Abholung von Speisen unter strikten Hygieneregeln nicht mehr ermöglicht wird. Besonders hart und existenziell ist es jedoch, dass es Einrichtungen gibt, die nun schon vor dem 15.03.2022 ungeimpfte Mitarbeitende freistellen oder gar bereits entlassen haben.

Zusammengefasst sind diese außerordentlichen Belastungen physisch wie psychisch enorm kräftezehrend. Die psychischen Auswirkungen wie Burnout, Angststörungen und Depressionen durch Isolation und Spaltung, aber auch durch Überlastung, sind nicht zu unterschätzen.
Einige Mitarbeitende sind dadurch endgültig ausgebrannt, einige reduzieren ihren Arbeitsumfang oder wenden sich ganz vom Gesundheitssystem ab.

Wir stehen immer ganz vorne und tragen das gesamte Risiko der Pandemie mit, wurden zunächst gesamtgesellschaftlich und politisch „bejubelt“ und nun gibt es als ein „besonderes Dankeschön“ eine einrichtungsbezogene Impfpflicht. Ist das der richtige Weg? Oder wäre es nicht sinnvoller, Menschen die Entscheidung zum Impfschutz selbst zu überlassen, gezielt Risikopatienten zu schützen, deren Immunität zu stärken, mehr Personal zu rekrutieren und die Arbeit in den Gesundheitsberufen insgesamt wieder attraktiver zu machen?

Die Impfpflicht im Gesundheitssystem markiert unsere Rote Linie.

Hier können viele von uns nicht mehr mitgehen.

Wir fordern deshalb:

  • Keine Impfpflicht im Gesundheitssektor.
  • Mehr Fachkräfte im Gesundheitswesen, Förderung der Ausbildung.
  • Prämien und angemessene Gehälter für alle Mitarbeitende im Gesundheitswesen, nicht ausschließlich für Intensivpersonal, denn jeder im Gesundheitssektor ist wichtig.
  • Anerkennung von Antikörperspiegeln und T-Helfer-Zellen als gängigen medizinischen Standard.
  • Eine transparente und differenzierte Datenerhebung (z. B. zur Schwere der Infektion nach Vorerkrankungen, zu Altersgruppen, Risikofaktoren sowie Impfnebenwirkungen).

Sollte die Impfpflicht wie angekündigt umgesetzt werden, verlassen viele der hier Unterzeichnenden ihren Beruf. Manche für immer, und manche hoffen, dass in der Zukunft die Bedingungen wieder mit unserem Recht auf körperliche Selbstbestimmung vereinbar sein werden.

Wir, als systemrelevante Berufsgruppen, fordern Sie deshalb auf, den Druck auf das betroffene Personal zu reduzieren sowie die Impfpflicht umgehend zu stoppen, um weiterhin allen Bürgern und Bürgerinnen in Baden-Württemberg ein gutes und vor allem funktionsfähiges Gesundheitssystem anbieten zu können.

Es grüßen Sie weit über 5.500 Mitarbeitende aus vielen Gesundheitseinrichtungen in Baden- Württemberg, denen das gesundheitliche Wohl ihrer Patienten, aber auch ihre eigene Gesundheit, am Herzen liegt.